Stephanie Borgert beschäftigt sich als Rednerin, Autorin und Berater mit der Komplexität in unserer Arbeitswelt – und mit den Möglichkeiten diese besser zu bewältigen. Im Interview zeigt sie, wie wichtig strategisches, reflektiertes Vorgehen im HR-Bereich ist, um nicht nur im System mitzuschwimmen, sondern dieses aktiv zu gestalten.

Die Business-Welt wird gefühlt immer komplexer. Darüber haben Sie ja einige Bücher geschrieben. Glauben Sie, dass dieser Trend auch den HR-Bereich erfasst?

Unsere (Business)-Welt ist nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich komplexer geworden, Vernetzung und Dynamik nehmen noch zu. Vor der Herausforderung stehen wir schon seit einigen Jahrzehnten, haben diese Tatsache im Denken und Handeln jedoch weitestgehend ignoriert. Somit hat die Komplexität den HR-Bereich natürlich schon lange erreicht. Es gilt immer mehr mit virtuellen Teams umzugehen, die Flexibilisierung der Arbeitsplätze nimmt weiter zu und es werden vermehrt weniger Experten und mehr Generalisten benötigt. Das sind nur einige Stichworte dazu. Ein „Komplexitätsproblem“, dem ich immer wieder begegne, ist die Distanz zwischen HR und der Realität. Das heißt, HR arbeitet an den tatsächlichen Bedarfen der Abteilungen vorbei, denn sie sind zu weit weg vom Markt und vom Alltagsgeschehen.

Die Personaler stehen durch die Digitalisierung und den demografischen Wandel derzeit vor zahlreichen Herausforderungen: Einführung einer modernen HR-IT, Active Recruiting, bessere Anpassung von Benefits und Entwicklungsoptionen an Lebensphasen etc. Wie kann man da den Überblick behalten?

Zunächst einmal gilt es, nach der Relevanz all dieser Maßnahmen und Konzepte für die eigene Organisation zu fragen. Nicht jeder Trend ist für jede Organisation sinnvoll beziehungsweise zu diesem Zeitpunkt relevant. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Hebelwirkung der Maßnahmen und dem Zweck, der damit erfüllt werden soll. Das, was hier zunächst unkonkret klingt, bedeutet ganz einfach auch, die aktuellen Herausforderungen zu hinterfragen und auf den eigenen Kontext zu beziehen. Welches Problem würde Active Recruiting beispielsweise lösen? Diese Frage sollte ernsthaft und intensiv bearbeitet werden, damit nicht zu schnell neue Trends für vermeintliche Probleme aufgesetzt werden und so eine unüberschaubare Maßnahmenliste entsteht.

Zudem ist zu überdenken, welche Aufgaben der HR-Bereich in Zukunft zentral (so wie es heute ja meist organisiert ist) erfüllen kann. Viele Prozesse werden automatisiert, Standardaufgaben werden weitestgehend entfallen. HR im Elfenbeinturm funktioniert ja heute schon nicht besonders gut. Also warum nicht beispielsweise das Recruiting in die entsprechenden Abteilungen und Teams geben. HR kann dabei eine unterstützende Rolle einnehmen. Ich bin davon überzeugt, dass HR sich neu definieren wird.

Einige Themen scheinen von den verschiedenen Stakeholdern mit ganz unterschiedlichen Erwartungen belegt zu sein. So wollen wir einerseits herausragende IT-Experten finden, einstellen und halten, aber sollen gleichzeitig die Recruiting-Kosten senken. Wie kann man so widersprechende Zielvorgaben ausbalancieren?

Indem man sich entscheidet. Im Ernst, es ist doch eine Frage nach Ziel und Zweck. Und die sollte immer mal wieder gestellt werden. Will ich herausragende Experten binden (wobei auch hier die Frage ist, was damit erreicht werden soll) oder Kosten sparen. Mit diesem Beispiel kommen wir schnell zum Punkt der Organisationsgestaltung, denn diese Art von konfligierenden Zielen entsteht in tradierten formal-hierarchisch organisierten Unternehmen oft. Die einzelnen Funktionsbereiche haben individuelle Zielvorgaben über die der variable Gehaltsanteil der MitarbeiterInnen (oder zumindest der Führungskräfte) geregelt ist. Dies führt zwangsläufig zur Optimierung der eigenen Zielvorgaben. Um aus dieser Falle rauszukommen, müssen die Silos aufgebrochen werden, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Alle müssen auf den gemeinsamen Zweck hinarbeiten, nicht neben- und schon gar nicht gegeneinander.

Oft besteht ja auch an die Personalabteilung die Erwartung, innovativ zu sein und Neues zu entwickeln. Aus Ihrer Sicht – wie groß ist die Spielwiese noch? Was geht da noch an Innovationen in der betrieblichen Bildung?

Die Spielwiese ist meiner Ansicht nach riesig. Bildung und Lernen sind auch unter dem Komplexitätsaspekt neu zu denken. Es geht ja heute nicht mehr nur um Vermittlung von Wissen, das in zweitägigen Seminaren stattfinden kann. Es geht um dauerhaftes Lernen, Anpassen, Weglassen, Ausprobieren, Andersmachen und zwar im Arbeitsalltag und für die gesamte Organisation. Heute haben viele HR-Bereiche Kataloge mit Seminaren, aus denen die Angestellten auswählen können. Das ist zum einen zu starr, weil die MitarbeiterInnen eventuell gerade etwas ganz anderes brauchen und selbst am besten wissen, was sie lernen wollen. Zum anderen ist der Blickwinkel dabei meist „die einzelnen Mitarbeiter werden besser, dann wird die Organisation besser“. Das springt zu kurz. Hier braucht es viel mehr Organisations- statt Personenentwicklung. Lernen kann nicht zentral gesteuert oder vorgegebenen werden. Als HR die Organisationsentwicklung zu moderieren und eine lernende Organisation zu gestalten – das ist eine innovative und superspannende Aufgabe.

Und warum schaffen es viele Personaler trotzdem nicht, innovative Ansätze zu entwickeln und umzusetzen?

Die meisten Personaler arbeiten im System, nicht am System. Und das ist kein Vorwurf an die Personaler, sondern ergibt sich aus der Art, wie Organisation und auch HR heute verstanden wird. Viele Maßnahmen, so erlebe ich es heute, dienen dazu, Symptome zu lindern. Flippigere Stellenausschreibungen sollen jüngere MitarbeiterInnen locken, Coaching soll ein neues Verständnis von Führung bewirken, Leitlinien-Workshops sollen eine bestimmte Kultur manifestieren. Die Wirkung ist meist gering, denn das Alles passiert im „alten System“. Organisationen sind komplexe, soziale Systeme. In ihrer Struktur, vor allem der impliziten, ist festgelegt, wie sie ticken. Das macht jede Organisation konservativ, auf Selbsterhalt ausgelegt. Will ich also einen neuen Ansatz wie beispielsweise agiles Arbeiten umsetzen, muss ich die Struktur „stören“. Es sind die grundlegenden Systemdynamiken, die ich berücksichtigen muss. Sonst laufen sich neue Ansätze nach kurzer Euphorie tot.

Sie sprechen da agiles Arbeiten an. Kann Agilität auch in der wertbeständigen klassischen Personalarbeit Vorteile entfalten?

Die Frage ist schwer ohne konkreten Kontext zu beantworten. Jeder versteht unter Agilität heute etwas anderes, und jeder hat seine eigene Idee davon, was es denn bringen soll. Die erste zu beantwortende Frage wäre also: „Welchen Zweck soll agiles Arbeiten an dieser Stelle erfüllen?“ Was aber auf jeden Fall einen Vorteil bringt, ist die Annahme der agilen Haltung. Denn Agilität ist ja eine Haltung und viel weniger eine Methode. Im Kern geht es darum, Veränderung zu akzeptieren und flexibel zu sein – im Denken, im Handeln und auch in der Wahl der passenden Methoden.

Viele Personaler sind in ihrer Abteilung selbst auch Führungskräfte. Was würden Sie denen empfehlen – wie halten sie ihre Mitarbeiter fachlich fit und persönlich resilient?

Der erste Schritt ist Selbstreflexion. Jede Führungskraft und gerne auch alle MitarbeiterInnen sollten sich darin üben und immer mal wieder auf der Meta-Ebene schauen, was gerade passiert und mit welchen eigenen Denkmustern er oder sie an der Situation beteiligt ist. Das sollte auch auf Teamebene passieren, kommt aktuell aber noch viel zu kurz. In resilienten Teams sind Reflexionsrunden selbstverständlich. Sie setzen sich dabei mit ihren Glaubenssätzen, mentalen Modellen und ihrem Selbstverständnis auseinander. Sie reflektieren sowohl ihre interne Zusammenarbeit, als auch die mit anderen Teams und Bereichen. Zudem sollte jede Führungskraft ein systemisches Grundverständnis haben, um Dynamiken und Wirkzusammenhänge besser oder schneller zu verstehen. So lässt sich eben auch am System arbeiten, statt „nur“ darin zu agieren.

Was ist Ihr persönliches Rezept für Gelassenheit unter Stress?

Ich bemühe mich unter Stress darum, den Betrachtungsausschnitt zu wechseln und auf das große Ganze zu schauen. Das relativiert. Und ich mach mir die Bedeutung der Probleme oder Aufgaben in der Situation klar. Wie wichtig und relevant sind sie wirklich? Welche Bedeutung haben sie im großen Ganzen und was hängt wirklich davon ab? Das hilft mir persönlich die Relationen zu klären und die eine oder andere Überbewertung wieder rauszunehmen.

Vielen Dank für das Interview, Frau Borgert!

 

 Über die Interviewpartnerin:

Stephanie Borgert ist Vortragsrednerin, Management-Beraterin und Weiterdenkerin für ein zeitgemäßes Management. Sie unterstützt Führungskräfte, und Projektleiter darin, „Meister der Komplexität“ zu werden und Erfolg nicht dem Zufall zu überlassen.

 

Irrtümer Komplexität

Aktuell ist folgendes Buch von Stephanie Borgert erhältlich: Die Irrtümer der Komplexität. Warum wir ein neues Management brauchen. 260 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-86936-661-6. € 29,90 (D)| € 30,80 (A). GABAL Verlag, Offenbach 2015