Werte im Unternehmen. Davon liest man überall. Es geht gar nicht mehr ohne. Aber sind sie wirklich so unverzichtbar? Welche Wirkung können sie entfalten – und wo sind die Grenzen? Eine kritische Reflexion.

Fast jedes Unternehmen verfügt heute über einen Wertekanon. Dieser ist mehr oder weniger lang, mehr oder weniger ausführlich beschrieben. Warum macht man das? Was soll das eigentlich sein? Werte sollen darstellen, was dem Unternehmen wichtig ist. Neben Umsatz und Fortbestand quasi. Vielfach beschreiben die Werte, wie die Mitarbeiter miteinander arbeiten sollen bzw. wollen. Oder wollen sollen.
Unternehmenswerten wird auf einer breiten wissenschaftlichen und unternehmerischen Basis ein hoher Nutzen zugeschrieben. Sie sollen den Mitarbeitern Orientierung bieten, Verhaltensmaßstäbe darstellen und als Entscheidungsgrundlage dienen. Typische Beispiele sind Kooperation, Loyalität oder Fairness.

Vergleich von zwölf Wertebildern

In jedem Unternehmen werden diese Werte in der Regel in aufwändigen Werteworkshops aufgestellt. Sie werden einzigartig für jedes Unternehmen entwickelt und spiegeln ganz genau die individuelle DNA der Firma wider. Zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis lesen sich die Ergebnisse dann doch sehr ähnlich.
Eine kurze Analyse von zwölf Unternehmen ergab: Kundenorientierung und unternehmerisches Denken gehörte bei 10 von 12 Unternehmen zum Wertekanon, Integrität, Respekt, Fairness und Verlässlichkeit nannten elf Firmen, sieben Unternehmen gaben auch Verantwortlichkeit als Wert an. Charakterliche Eigenschaften wie Bescheidenheit, Charakterstärke, Geradlinigkeit, Willensstärke nannten sechs Firmen. Teamarbeit gaben neun Unternehmen als wichtig an, Vielfalt, Inklusion und Offenheit sechs.

Eine Vielzahl der Werte ist demnach stark redundant. Das weist darauf hin, dass diese Wertebeschreibungen der Unternehmen austauschbar sind. Ich bin sicher, wenn man einem Unternehmen verschiedene Wertedarstellungen hinlegen würde, könnten weder Führungskräfte noch Mitarbeiter identifizieren, welche die ihre ist. Es ist sogar fraglich, ob es ihnen auffallen würde, wenn das Werteleitbild ihres Unternehmens in der Auswahl gar nicht dabei ist. Eine echte Individualität der Wertevorstellung als deutliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Unternehmen scheint so nicht gegeben. Deshalb ist auch fraglich, welche Orientierungsfunktion solche Unternehmenswerte dann tatsächlich haben.

Perspektivwechsel in der Wertedebatte

Unternehmenswerte haben also kaum eine unterscheidende Funktion. Man könnte es auch einmal anders herum sehen – wer möchte in einem Unternehmen arbeiten, in dem diese Werte NICHT gelten?! Niemand, denn diese Werte sind die Grundlagen des Miteinanders und der Ethik. Sie haben aber nichts mit dem besonderen Zweck oder Anspruch des Unternehmens zu tun. Dies würde nämlich auch bedeuten, dass dann niemand das Unternehmen wechseln kann, weil er ja diese einzigartige Wertewelt, die im Idealfall optimal zu seinen eigenen Vorstellungen passt, kein zweites Mal finden würde.

Außerdem sollte man sich klar machen, welche Werte sich überhaupt für eine Darstellung auf Unternehmensebene eignen. Teilweise beziehen sich die Werte auf charakterliche Eigenschaften. Dies ist ein absolutes No-Go, weil der jeweilige Charakter eines Mitarbeiters im Unternehmen kein Thema sein darf. Vorgaben in diese Richtung können im Recruiting eine Rolle spielen (Stichwort Cultural Fit), aber ein Unternehmen ist kein Umerziehungslager. Abgesehen davon, dass Charaktereigenschaften im Erwachsenenalter sich in unzähligen psychologischen Studien als sehr stabil erwiesen haben. Glaubt ein Unternehmen tatsächlich mit Wertekanon und sanften Appellen dort etwas ändern zu können, kann ich solchen Elan nur bewundern.

Werte als gesellschaftliches Gut

Natürlich haben Werte wie Offenheit, Respekt oder Fairness einen hohen Nutzen und beeinflussen Verhalten. Aber sie wirken auf gesellschaftlicher Ebene, nicht auf der Ebene der Unternehmen und schon gar nicht auf der Ebene einer einzelnen Firma.
Wenn Respekt oder Ehrlichkeit keine gesellschaftlich akzeptierten und von der Mehrheit der Bevölkerung geteilten Werte wären, könnte man sie mit Sicherheit nicht in einem Unternehmen quasi neu einführen. Vielmehr entsprechen diese als Unternehmenswerte proklamierten Werte sehr genau dem gesamtgesellschaftlichen Kodex. Deswegen nimmt man sie ja auch so gern – weil sie sowieso von allen geteilt werden und weil niemand so richtig was dagegen sagen kann. Diese Werte tun niemandem weh. Es ist vielmehr eine Rückbesinnung auf unsere gute Kinderstube. „Geht fair miteinander um!“, „Wir reden miteinander, nicht übereinander.“, „Wir lassen andere aussprechen.“ Das kennen wir alle schon aus Kindertagen. Solche Sätze könnten gut auch in krakeliger Kinderschrift an den Wänden von Grundschulen stehen.

Werte unterscheiden sich

Bestimmt unterscheiden sich die persönlichen Werte, die einzelne Menschen besitzen. Zumindest auf Detailebene. Denn insgesamt sind sie wahrscheinlich stark vom Kulturkreis geprägt, in dem die Menschen aufwachsen. Was wir in den Unternehmenswertdarstellungen sehen, sind meist vor allem deutsche Werte. Deutsche Werte der arbeitenden Mittelschicht. Deutliche Unterschiede wären vielleicht erkennbar, wenn man diese mit amerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Wertvorstellungen vergleicht. Und wer schon einmal im Ausland gearbeitet hat weiß, dass die Art des Arbeitens von Land zu Land und Kultur zu Kultur tatsächlich sehr unterschiedlich ist.

Schuldsuche in der Wertekommunikation

Kommen die Werte bei den Mitarbeitern eines Unternehmens nicht an und werden nicht „gelebt“ (wie auch immer man dies bestimmen möchte), liegt es in der Wahrnehmung allerdings in der Regel nicht daran, dass die benannten Werte einfach zu banal sind, oder dass die Mitarbeiter damit nichts anfangen können. Vielmehr wird die Schuld dann meist dem Management gegeben, dem es nicht gelungen ist, die Werte in ausreichendem Maße und mit hoher Emotionalität zu kommunizieren. Ehrlich – bei so einem schwammigen Thema ist das aber auch ein hartes Stück Arbeit!

Wenn nicht Werte, was dann?

Meine Empfehlung ist klar: Weg mit den Unternehmenswerten. Das ist verbranntes Geld, sowohl für die Workshops beim Aufstellen, als auch für die Marketingmaßnahmen in der Kommunikation und Darstellung. Aber wenn sich die bisher so arg strapazierten Unternehmenswerte für die Orientierung und Leitgebung nicht eignen, muss etwas anderes her, oder?

Die Idee, sich darüber auszutauschen, WIE im Unternehmen miteinander gearbeitet werden soll, ist an sich gut. Das legt den Fokus nicht auf die Inhalte, sondern auf das Miteinander. Allerdings wäre zu überlegen, ob die Diskussion darüber nicht nur dann stattfinden sollte, wenn die Zusammenarbeit nicht funktioniert. Wenn die Teams reibungslos arbeiten, die Stimmung gut ist und die Qualität stimmt, sollte man nicht künstlich eine Debatte über das Wie entfachen. Will man den guten Fluss unterstützen, eigenen sich Erfolgsgeschichten im Sinne guter Beispiele viel mehr.

Werden Leitlinien zur Zusammenarbeit benötigt, sollten sie möglichst konkret sein und keine Allgemeinplätze beinhalten. Auch Verhaltensweisen, die sowieso schon jeder verinnerlicht hat, gehören da nicht hinein. Sie sollten eine ehrliche Ist-Betrachtung als Grundlage haben und genau aufzeigen, was in der Zukunft besser gemacht werden soll.
Auch ist zu überlegen, ob solche kritischen Diskussionen nicht besser auf Team- oder Abteilungsebene geführt werden, statt die Zusammenarbeit im Gesamtunternehmen über einen Kamm zu scheren.

Zum Abschluss möchte ich noch in den Ring werfen, dass sich Sinn wesentlich besser als Orientierung und Leitlinie eignet, als Werte. Dem Management muss es gelingen, der Arbeit des Unternehmens und der Arbeit des Einzelnen einen Sinn zu geben, ein gemeinsames Ziel, einen größeren Kontext. Wenn die Beschäftigten wissen, warum sie Dinge tun und wo die gemeinsame Reise hingeht, werden sie sich von ganz allein in diese Richtung ausrichten und an einem Strang ziehen. Zieht dann einer in der falschen Art und Weise, kann man immer noch ins Gespräch einsteigen. Aber am besten konkret und persönlich, ohne Umweg über unser Wertebild.

 

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