Kaum ein Vortrag über Digitalisierung und New Business kommt heute ohne den Begriff Ambidextrie aus. Für mich war das Wort völlig neu – für Sie vielleicht auch? Grund genug, dem Thema einen Blog Post zu widmen.
Im Ursprung bedeutet das Wort, quasi zwei rechte Hände zu haben, also mit beiden Händen gleichermaßen geschickt zu sein, komplexe Bewegungen und Tätigkeiten sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand durchführen zu können.
Organisationale Ambidextrie bedeutet „die wiederkehrende Neuerfindung des Unternehmens bei gleichzeitiger Risikominimierung“ (Eder 2014:2). Obwohl es in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Auslegungen und Schwerpunkte gibt, bedeutet Ambidextrie im Kern, dass ein Unternehmen einerseits ein Bestandsgeschäft sehr effizient durchführen kann und gleichzeitig innovativ neues Business entwickelt. Dabei ist auch die Rede von Exploitation und Exploration, also dem gleichzeitigen „Verwenden von Bekannten“ und der „Suche nach Neuem“ (Levinthal/March 1993:105).
Organisationale Ambidextrie wurde schon in den 1970er Jahren beschrieben (Duncan 1976). Im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist der Begriff jetzt so beliebt, weil genau dies die aktuelle Strategie vieler Firmen zu sein scheint: das alte, ggf. analoge Geschäft so gut es geht zu erhalten und möglichst profitabel durchzuführen und quasi nebenbei neue, digitale Services zu entwickeln.
Ein Unternehmen, dass Ambidextrie aufweist, wird im Übrigen als ambidextrös bezeichnet.
Einschätzung
Ich bin noch unschlüssig, was von diesem Trend der Zweiteilung zu halten ist. Ist das tatsächlich der richtige Weg – das Bestandsgeschäft zu nutzen, um Innovation zu finanzieren? Innovationen möglichst risikolos umzusetzen, weil das Unternehmen ja aus dem klassischen Geschäft heraus safe ist? Im Innovationsmanagement scheint der Aspekt des Risikos vor allem auch ein Treiber zu sein, der Teams zu besseren Leistungen und schnellerer Marktreife antreibt. Außerdem entsteht Innovation im Unternehmen oft vor allem aus Notwendigkeit und einem gewissen Leidensdruck. Wenn jedoch das Hauptbusiness super läuft, reicht dann die Motivation tatsächlich aus, um in tiefgreifende Innovationen zu investieren?
Und dass wir jetzt ein Wort für diesen Trend haben – legitimiert das diese Zweiteilung im Unternehmen nun? Oder ist es vielmehr eine Zustandsbeschreibung? Ein Eingeständnis, dass viele Unternehmen es einfach nicht schaffen, die Digitalisierung direkt in ihre Prozesse und Produkte einfließen zu lassen? Ambidextrie kann so weit gehen, dass das neue Geschäft auch organisatorisch völlig vom Kerngeschäft abgespalten wird bis hin zur Auslagerung in einem Start-Up oder in einer eigenen GmbH. Für das neue Business kann dies natürlich ein guter Startschuss sein. Aber oft schaffen die Firmen es dann nicht mehr, diese Speedboats wieder einzufangen und in das Unternehmen zu reintegrieren – weder in Bezug auf Technologie, Kunden oder Unternehmenskultur. Dann sind die Ableger zwar zukunftsfähig, das „Mutterschiff“ hat seine Transformationsenergie jedoch sauber nach außen abgegeben.
Besser scheint mir der Weg, das gesamte Unternehmen auf den Weg der digitalen Transformation zu bringen. Das mag etwas länger dauern und größere Anstrengungen in Kommunikation und Change Management verlangen, letztlich scheint es mir jedoch deutlich sinnvoller.
Quellen:
Duncan, R. (1976): The ambidextrous organization: Designing dual structures for innovation. In: Kilmann, R.; Pondy, L.; Slevin, D. (Hrsg.): The management of organization design: Strategies and implementation. New York: North Holland
Eder, M. (2014): Organisationale Ambidextrie. Geänderte Fassung 30.01.2016. URL: https://www.researchgate.net/publication/292298897, 09.03.2017
Levinthal, D.; March, J. (1993): The Myopia of Learning. Strategic Management Journal, Heft 14
Was sagen Sie dazu? Gefällt Ihnen der Beitrag oder widersprechen Sie? Dann kommentieren Sie jetzt oder empfehlen Sie den Beitrag weiter.
11. April 2017 um 12:06
Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Mir war das Wort noch nicht geläufig, umso mehr freue ich mich es jetzt zu kennen. Das Thema ist in der Tat sehr spannend und jedes Unternehmen muss aufpassen, dass es nicht irgendwann überflüssig wird. Ich stimme meinem Vorschreiber zu, dass es keinen Sinn macht Prozesse, die bereits perfektioniert sind, über Board zu werfen. Lobend hervorheben möchte ich, dass Frau Dreyer ihre Aussage mit Quellen belegt, so sollte es immer sein.
10. April 2017 um 11:47
Ich denke, es dürfte für Organisationen/Unternehmen sehr schwierig sein, über längere Zeit gewissermaßen als “gespaltenen Persönlichkeiten” unterwegs zu sein: Hie der “konventionelle” Bereich (selbst wenn es im Idealfall die Cash Cow ist), da der “innovative” (heute natürlich i.d.R. digitale) Bereich. Wenn innovative Energie nicht nur in Bezug auf einzelne Produkte oder Dienstleistung sondern bezüglich der ganzheitlichen (digitalen) Transformation auf die Straße gebracht werden soll, bedarf es zumindest einer strategischen Gesamtausrichtung, auf die alle verpflichtet sind. Sonst sind nach meiner Erfahrung die konservativen Bindungskräfte zu zäh, um ein wirkliches Vorankommen zu ermöglichen.
3. April 2017 um 20:47
Zu dieser Sichtweise möchte ich zwei Ergänzungen anmerken. Erstens, halte ich es für fraglich ob eine Organisation wirklich nur einer Ausrichtung nachfolgt. Die Frage ist ob die hier angesprochene Digitalisierung das Leitbild verändert oder lediglich von instrumentellem Interesse ist.
Die zweite Frage ist wie Digitalisierung definiert wird. Wenn es eine Innovation wie viele andere im Umfeld, wenn auch im größeren Maßstab ist, so ist das “Nichtaufgeben” von bewehrtem sicherlich nicht zu verdammen. Sollte es sich aber um einen Paradigmenwechsel handeln, so ist die erste (chronologisch gesehen) Hand mit etwas beschäftigt, was eh dem Untergang geweiht ist.
Mit diesem Urteil muss sehr vorsichtig umgegangen werden, denn entweder man geht den Modernisierungsweg dann konsequent oder sieht letztendlich die Kraft doch eher in der Tradition. Vielen Unternehmen im primären Sektor tut es finanziell äussert gut als Weinberg z.B. auf 400 jahre Tradition zurückblicken zu können, manche japanische Messer brauchen keine Optimierung obwohl sie genau so hergestellt werden wie vor 1000 Jahren – diese Punkte waren einfach schon optimal und bleiben es auch.
Der erste Punkt sei also die Kultur und der zweite die Kernkompetenz, ins Verhältnis zu den Anforderungen, da stimme ich Ihnen ganz zu, ist dann aber besser zu entscheiden welche Hand die “führende” sein sollte.